An-Nafs al-Lawwama

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An-Nafs al-Lawwāma (Arabisch: النَّفْسِ اللَّوَّامَةِ) oder die selbstkritische Seele ist ein Seelenzustand, in dem sich der Mensch für seine Fehler tadelt. Dieser Begriff steht im zweiten Vers der Sure al-Qiyama. Die muslimischen Gelehrten legten diesen Vers bezüglich der selbstkritischen Seele unterschiedlich aus. Die selbstkritische oder sich selbst tadelnde Seele ist höher als die das Böse gebietende Seele, die das Böse gebietet, aber niedriger als die Ruhe gefundene Seele. Laut muslimischen Gelehrten besitzt jeder Mensch nur eine Identität. Wenn die Seele dem Verstand folgt, nennt man sie «die sich tadelnde Seele» (Nafs al-Lawwama), wenn sie gegen den Verstand agiert, nennt man sie «die das Böse gebietende Seele» (Nafs al-Amara), und wenn sie den inneren Frieden erreicht hat, bezeichnet man sie als «die Ruhe gefundene Seele» (Nafs al-Mutmainna).

Definition

Laut Morteza Motahhari ist Nafs al-Lawwama bzw. die selbstanklagende Seele, eine Ebene der Seele, die höher ist als die «das Böse gebietende Seele» und niedriger als «die Ruhe gefundene Seele».[1] Mohammad Taqi Misbah Yazdi schreibt, dass es einen Zustand der Seele gibt, in dem der Mensch sich tadelt und seine Fehler bereut.[2] Dieser Begriff wird in Vers 2 der Sure al-Qiyama verwendet: "Nein! Ich schwöre bei der Seele, die sich selbst tadelt." Es heißt, dass die «sich selbst tadelnde Seele» das Gewissen ist. Dieses Gewissen lässt einen Menschen seine Schuld erkennen, nachdem er eine Sünde begangen hat und lässt ihn auch demzufolge leiden.[3]

Das Böse gebietende Seele und die Ruhe gefundenen Seele

Die «sich selbst tadelnde Seele» steht der «das Böse gebietenden Seele» und der «Ruhe gefundenen Seele» gegenüber.[4] Die «das Böse gebietende Seele» ist ein Zustand der Seele, in dem ein Mensch nicht auf seine Vernunft hört und sich der Sünde zuwendet.[5] «Die Ruhe gefundene Seele» ist ein Zustand, der durch die Wiederholung der Befolgung des Verstandes zu einer Gewohnheit wird und der Mensch Sicherheit und Frieden findet.[6]

Die Vereinbarkeit verschiedener Seelenzustände mit der Einheit der Identität des Menschen

Die Tatsache bezüglich unterschiedlicher Seelenzustände bzw. eine sich selbst tadelnde, eine das Böse gebietende und eine Ruhe gefundene Seele steht laut muslimischen Gelehrten nicht im Widerspruch zur Einheit oder Identität des Menschen. Sie glauben, dass ein Mensch nicht mehr als ein Ego oder eine Identität oder ein Selbst hat und jene Begriffe nur die verschiedenen Zustände und Ebenen des Selbst, der Seele anzeigen.[7]

Mohammad Taqi Mesbah Yazdi schrieb, dass das Selbst manchmal schlechte Taten befiehlt, was als die «das Böse gebietende Seele» bezeichnet wird. Manchmal gibt der Mensch sich selber die Schuld für seine Fehler, und dieses wird mit «selbstkritische Seele», also einer sich selbst tadelnden Seele bezeichnet.[8]

Laut Morteza Motahari hat der Mensch nicht zwei «Ich» oder «Selbst»; Er hat vielmehr ein Selbst mit verschiedenen Stufen. Manchmal liegt es auf einer niedrigen Ebene, die dem Intellekt nicht folgt. Das ist sein das Böse gebietender Seelenzustand. Auf einer höheren Ebene ist er wachsamer und wenn er etwas Schlechtes tut, verurteilt er sich selbst, der sich tadelnde Seelenzustand.[9]

Die sich tadelnde Seele in den Exegetenbüchern

In den Exegeten-Büchern gibt es unterschiedliche Interpretationen von der sich tadelnden Seele. Einige davon sind wie folgt:

  • Damit ist die Seele eines Gläubigen gemeint, der sich selbst die Schuld gibt für seine Sünden oder für seine Nachlässigkeit bei guten Taten.[10] Allameh Tabatabai akzeptierte diese Ansicht.[11]
  • Damit sind die Seelen aller Menschen gemeint, ob gut oder böse, am Tag der Auferstehung; Denn an diesem Tag tadeln sich die Übeltäter, da sie nicht fromm waren, und selbst die guten Menschen, da sie zu wenig Gutes taten. Diese Ansicht wird Abdullah b. Abbas zugeschrieben.
  • Damit sind nur die Seelen der Sünder am Tage des Gerichts gemeint; Denn am Tag der Auferstehung werden sie sich selbst die Schuld für ihre Sünden geben.
  • Damit sind die frommen Menschen gemeint, die am Tag des Gerichts die Sünder tadeln werden.[12]

Die selbstkritische Seele in der Philosophie und Mystik

Khajeh Nasir ad-Din at-Tusi geht davon aus, dass die sich tadelnde Seele aus der Kraft des Zornes in der Seele des Menschen entsteht.[13] In der mystischen und philosophischen Literatur besteht die Verantwortung der Macht des Zorns darin, Schaden vom Menschen abzuwehren.[14] Diese Kraft kann mit ihrer Strenge das Übermaß an instinktiven und tierischen Kräften bewältigen.[15]

Nach Ansicht dieser Denker gibt die Seele dem Urteil der Vernunft Vorrang vor ihren instinktiven Wünschen, und wenn sie wegen der in Aufregung geratenen instinktiven Triebe eine Sünde begeht, gibt sie sich sofort die Schuld für ihr Verhalten und wendet sich der Reue zu.[16] Einige Mystiker meinen jedoch, diese Stufe kann nicht die letzte Stufe der Seelensentwicklung sein, denn die Vorherrschaft der Eigenschaft des Zornes in der Seele kann zu übermäßigem Ehrgeiz, zu Überlegenheitsstreben etc. führen.[17]

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Fußnoten

  1. Motahari, Majmue Athar, B.3, S.595-596
  2. Misbah Yazdi, Aien Parwaz, S.26
  3. Mahfuzi, «Nafs Lawwama», S.12
  4. Majlisi, Bihar al-Anwar, B.67, S.37; Motahari, Majmue Athar, B.3, S.595-596; Misbah Yazdi, Aien Parwaz, S.26-27
  5. Motahari, Majmue Athar, B.3, S.595-596; Misbah Yazdi, Aien Parwaz, S.27
  6. Misbah Yazdi, Aien Parwaz, S.27
  7. Majlisi, Bihar al-Anwar, B.67, S.36-37; Motahari, Majmue Athar, B.3, S.595; Misbah Yazdi, «Akhlaq wa Irfan Islami», S.8
  8. Misbah Yazdi, «Akhlaq wa Irfan Islami», S.8
  9. Motahari, Majmue Athar, B.3, S.594-596
  10. Tabatabaee, Al-Mizan, B.20, S.103; Fakhr Razi, Mafatih al-Ghaib, B.30, S.720
  11. Tabatabaee, Al-Mizan, B.20, S.103
  12. Fakhr Razi, Mafatih al-Ghaib, B.30, S.720-721
  13. Tusi, Akhlaq Naseri, B.1, S.42
  14. Khomeini, Scharh Hadith Junud Aql wa Jahl, S.155
  15. Naraghi, Ilm Akhlaq Islami, S.103-173
  16. Schirazi, Manahij Anwar al-Ma'rifa, B.2, S.21-23
  17. Khomeini, Scharh Hadith Junud Aql wa Jahl, S.155; Naraghi, Ilm Akhlaq Islami, S.103-173

Quellenverzeichnis

  • Fakhr Razi, Mohammad b. Umar, Mafatih al-Ghaib, Beirut, Dar al-Turath al-Arabi, 1420n.H
  • Khomeini, Sayed Ruhollah, Scharh Hadith Junud Aql wa Jahl, Teheran, Muassisa Tanzim wa Naschr Athar Imam Khomeini, 1392n.i.S
  • Mahfuzi, Abbas, «Nafs Lawwama»
  • Majlisi, Mohammad Baqir, Bihar al-Anwar, Beirut, Dar Ihya al-Turath al-Arabi, 1403n.H
  • Misbah Yazdi, Mohammad Taqi, Aien Parwaz, Qom, Muassisa Imam Khomeini, 1399n.i.S
  • Misbah Yazdi, Mohammad Taqi, «Akhlaq wa Irfan Islami»
  • Motahari, Morteza, Majmue Athar, Teheran, Sadra, 1389n.i.S
  • Naraghi, Mahdi, Ilm Akhlaq Islami, übersetzt von Sayed Jalal al-Din Mojtabawi, Teheran, Hikmat, 1379n.i.S
  • Schirazi, Mirza Baba, Manahij Anwar al-Ma'rifa, Teheran, Khanghah Ahmadi, 1384n.i.S
  • Tabatabaee, Sayed Mohammad Hossein, Al-Mizan, Qom, Daftar Intescharat Islami, 1417n.H
  • Tusi, Nasir al-Din, Akhlaq Naseri, Teheran, 1413n.H